Gastbeitrag von Ralf Krämer

(zuerst erschienen in: Zeitschrift Luxemburg)

Was bringt mir Marx für meine Arbeit als Gewerkschaftsökonom oder in der Partei Die LINKE? Sehr viel. Wir brauchen eine realistische Vorstellung davon, unter welchen Bedingungen wir leben und kämpfen, also wie die kapitalistische Welt strukturiert ist und funktioniert. Marx und auf seinen Werken aufbauende Theorie bieten hier unverzichtbares Orientierungswissen. Entscheidend ist dabei, wie man Marx nutzt und versteht. Marx bietet für vielerlei Auffassungen Begründungen, zumindest irgendwo ein vermeintlich passendes Zitat.

Für mich ist Marxismus in erster Linie relevant als eine kritische Gesellschaftstheorie des Kapitalismus, die den in sich widersprüchlichen und historischen Charakter dieser Formation betont.

Materialistische Analyse ist grundlegend

Eine materialistische Herangehensweise im Sinne des Vorworts zur Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13, 8f) auf der Basis einer realistischen Kapitalismus- und Klassenanalyse ist zentral. Die von den unterschiedlichen Organisationen jeweils vertretenen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen, theoretischen Auffassungen und Ideologien reflektieren in hohem Maße ökonomische Interessenlagen von Klassen oder Klassenfraktionen. In den Wirtschaftswissenschaften gilt in besonders hohem Maße, in Deutschland noch krasser als in manchen anderen Ländern, die Aussage aus der Deutschen Ideologie, dass „die Gedanken der herrschenden Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken“ sind (MEW 3, 46).

Die Gegenseite ist nicht mit „besseren” Analysen, Argumenten und moralischen Appellen zu überzeugen. „Die Frage löst sich auf in die Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden“ (MEW 16, 149) in den Klassenauseinandersetzungen – im Rahmen der durch das gesellschaftliche Produktivitätsniveau und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bestimmten Möglichkeiten. Dabei sind die Machtressourcen, die den Kräfteverhältnissen zugrunde liegen, von vornherein asymmetrisch durch die aus ihren Eigentumsrechten resultierende Herrschaftsposition des Kapitals geprägt. Diese schlägt sich auch im kapitalistischen Staat und seiner Politik nieder. Diese Sachverhalte blenden die meisten keynesianisch orientierten, eher gewerkschaftsnahen Ökonomen regelmäßig aus.

Fortschritte sind normalerweise nur zu erzielen und selbst die erreichten Errungenschaften und Kompromisse nur zu halten, wenn es gelingt, durch Organisierung und Mobilisierung der Arbeitenden und der Zivilgesellschaft sowie bei Wahlen soziale und politische Gegen-Machtressourcen und Druck zu entwickeln. Dafür, um die Überzeugung und Kampfbereitschaft der Kolleg*innen zu fördern, sind wiederum tragfähige, überzeugende, verständliche und populär vorgetragene gewerkschaftliche und linke Positionen und Argumentationen wichtig, die auch in der öffentlichen Debatte durchgehalten werden können, also faktenbasiert und fundiert sind. Dafür müssen marxistische Begrifflichkeiten und ökonomische Fachsprache, wo nötig, in heute geläufige Sprache und Argumente übersetzt werden, die am Alltagsbewusstsein der Menschen anknüpfen.

Es muss vor allem darum gehen, auf Basis Marxscher Erkenntnisse die heutige Realität zu analysieren und sich mit den gegenwärtig vorherrschenden ökonomischen Auffassungen auseinanderzusetzen, wie es Marx zu seiner Zeit auch getan hat. Dabei reicht es nicht aus, die grundsätzliche Unzulänglichkeit der bürgerlichen Ökonomie aufzuzeigen. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit konkreten Fragen müssen auch ernst zu nehmende Erkenntnisse aufgegriffen, ver- und umgearbeitet werden. Insbesondere die von Keynes ausgehende Ökonomie hat hier viel zu bieten. Sie ist oft für gewerkschaftliche und linke Argumentation nützlich, weil sie den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang und die Bedeutung der Löhne und Sozialleistungen nicht nur als Kosten, sondern auch als zentrale Nachfrageblöcke und Stabilisatoren der ökonomischen Entwicklung betont.

Von zentraler Bedeutung für die Analyse und die Auseinandersetzung ist ein solider empirischer Bezug. Die Statistiken und Forschungsergebnisse der „offiziellen“ Ökonomie liefern dazu die unverzichtbaren Datenquellen. Sie sind gegebenenfalls methodisch zu kritisieren, aber sie müssen genutzt werden. Besonders die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Statistischen Ämter sind auch für die marxistisch fundierte Ökonomie zentral. Sie spiegeln bei allen Mängeln wesentliche Entwicklungen, Proportionen und Zusammenhänge wider, wie sie zum Teil auch Marx behandelt hat. Ich bin sicher, Marx wäre begeistert gewesen, hätte er die heutigen Datenquellen und Analyse-Instrumente zur Verfügung gehabt. Der Maßstab für marxistische Analyse muss sein, inwieweit sie Erklärungskraft für die beobachtbare ökonomische Realität und ihre Entwicklungstendenzen hat, nicht ob sie bestimmten Marx-Zitaten oder politischen Hoffnungen entspricht.

Erwerbsarbeit und speziell Lohnarbeit bleiben zentral

Entgegen manchen Auffassungen, die unter Berufung auf Marx verbreitet werden, ist weder ein Ende des Kapitalismus noch ein Ende der Arbeitsgesellschaft (Robert Kurz/Krisis-/Exit-Gruppe, Jeremy Rifkin, Paul Mason, u.a.) in Sicht. Die immanente Krisenhaftigkeit ist eine Bewegungsform der kapitalistischen Produktionsweise, sie führt nicht zu ihrem Zusammenbruch. Das gilt auch für „große Krisen“, wie wir sie zuletzt 2007 bis 2009 erlebt haben. Oft wird die Flexibilität und das Potenzial des Kapitalismus unterschätzt, Krisen zu überstehen und neue Produktivkräfte und sich verändernde soziale Strukturen in kapitalistische Verhältnisse und Dynamiken einzuverleiben. Auch die neuen Entwicklungen der Digitalisierung werden nicht dazu führen, dass die „kapitalistische Hülle“ gesprengt wird.[1] Es erscheint mir wesentlich realistischer, dass durch ihre Nutzung und insbesondere „big data“ die Kontrolle des Kapitals über das Leben der Menschen noch mal eine ganz neue Qualität und Intensität erhalten kann.

Die Lohnarbeit und allgemeiner die Erwerbsarbeit und ihre Bedeutung für die Gesellschaften und die Einzelnen nehmen weltweit und auch in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern ungebrochen zu. Die kapitalistische Produktion dominiert immer mehr die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung und weist auch den anderen Tätigkeiten ihren Platz zu. Wo die Erwerbsarbeit schrumpft, ist das Folge ökonomischer Krisen oder von Kriegen, nicht etwa von Produktivitätssprüngen. Gesamtwirtschaftlich ist das Tempo der Produktivitätssteigerung, die die kapitalistische Produktion seit ihrem Beginn kennzeichnet, in den letzten Jahrzehnten sogar deutlich geringer geworden, und eine massive Zunahme durch die Digitalisierung ist nicht zu erwarten.[2]

Die Digitalisierung erleichtert die Ausweitung prekärer Beschäftigung und Lohndrückerei, etwa ausgebeutete faktisch abhängige Arbeit in Formen von Solo-Selbstständigkeit über Vermittlungsplattformen im Netz. Aber inwieweit sich das realisiert, ist kein Sachzwang der Technik, sondern eine Frage der sozialen Regulierung und der ökonomischen Bedingungen und der Kräfteverhältnisse auf den Arbeitsmärkten. Bisher schwankt in Deutschland bei zunehmender Gesamtbeschäftigung die Quote der Selbstständigen an den Erwerbstätigen seit drei Jahrzehnten um etwa zehn Prozent, früher war sie höher. Gerade Marxist*innen müssen bei aller Faszination für neue Technik, die auch Marx hatte, den gesellschaftlichen und globalen „Gesamtarbeiter“ und die Entwicklungstendenzen der gesamten Ökonomie und Gesellschaft in den Blick nehmen, statt technizistisch vom Einzelnen auf die die Totalität der Entwicklung zu schließen. Die Kämpfe um Löhne, Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit bleiben zentral.

Arbeitswerttheorie ist grundlegend

Oft fehlt auch unter Intellektuellen, die sich auf Marx beziehen, ein angemessenes Verständnis der ökonomischen Bedeutung der Erwerbsarbeit. Die Marxsche Werttheorie ist nicht als philosophische, sondern als sozialwissenschaftliche Begründung der kapitalistischen Warenproduktion und der darauf beruhenden Verteilungsverhältnisse zu begreifen. Produktion von Wert bedeutet letztlich nichts anderes als die Erzeugung des Anspruchs, als Gegenleistung für die eigene Arbeit einen entsprechenden Anteil an den Arbeitsprodukten der Gesellschaft insgesamt zu erhalten, vermittelt über Geld. Marx zeigt im Kapital, wie unter kapitalistischen Verhältnissen Ausbeutung stattfindet, obwohl die rechtliche Freiheit und Gleichheit der Menschen, die die bürgerliche Gesellschaft begründen, und der Äquivalententausch dabei nicht verletzt wird. Dabei eignen sich die privaten Eigentümer*innen der entscheidenden Produktionsmittel (produzierte und natürliche, stoffliche und nicht-stoffliche) und der großen Finanzvermögen große und tendenziell wachsende Teile der Wertschöpfung an.

Die von bürgerlicher, aber teilweise auch von linker Seite häufig für obsolet erklärte „Arbeitswertlehre“ entspricht nicht nur der Interessenlage der Beschäftigten, sie ist unverzichtbar für die Analyse der ökonomischen Verhältnisse. Der Wert reguliert nicht nur den Austausch, sondern darüber die Produktion, die gesellschaftliche Arbeitsteilung, soweit sie auf die Produktion von Waren (einschließlich marktbestimmter Dienstleistungen) gerichtet ist. Dabei geht es nicht nur um die gesellschaftlichen Formen. Wenn Austausch und Arbeitsteilung nicht in ihren quantitativen Proportionen reguliert werden, werden sie gar nicht reguliert (dies auch in Kritik der Auffassungen etwa von Hans-Georg Backhaus oder Michael Heinrich). Die Marxsche Theorie stellt dabei die Verhältnisse und Prozesse aus der auch in der Realität bestimmenden Perspektive des Kapitals kritisch dar. Sie blendet weitgehend aus, was auch die kapitalistische Ökonomie selbst ausblendet und externalisiert, nämlich die Produktion allgemeiner Bedingungen und das „Ausbaden“ der externen Effekte der kapitalistischen Produktion durch die Individuen und die in privaten Haushalten geleistete Reproduktionsarbeit sowie die Natur.

Dies muss von marxistischer Theorie weitergehend und kritisch analysiert werde – aber nicht indem Kategorien der Analyse der Warenproduktion unpassend darauf angewendet werden. Ökonomischer Wert ist eine soziale Eigenschaft von Waren. Wertschöpfung ist ein spezifischer sozialer Prozess, der in Geld-Einkommen mündet, in Form von Löhnen einerseits, Gewinnen und Vermögenseinkommen andererseits. Diese stammen letztlich aus den Verkaufserlösen der Waren. Nur Erwerbsarbeit in der Warenproduktion schafft daher als abstrakte Arbeit ökonomischen Wert und – soweit sie kapitalistisch ausgebeutet wird – Mehrwert.

Sinnvoll und wichtig ist allerdings, als wert-produktive Arbeit nicht nur jene zu betrachten, die unmittelbar stoffliche Güter produziert, sondern ebenso die Arbeit in der Produktion marktförmiger Dienstleistungen, die mittlerweile den überwiegenden Anteil der Erwerbsarbeit ausmacht. Das ist teilweise schon bei Marx so bestimmt, allerdings sollten auch die von ihm als unproduktiv betrachteten Zirkulationsdienstleistungen hier einbezogen werden. Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen betrachten darüber hinaus Erwerbsarbeit im öffentlichen Dienst und bei Organisationen ohne Erwerbszweck als Wertschöpfung, was insoweit Sinn macht, als auch hier Einkommen entstehen. Werttheoretisch betrachtet beruhen diese aber auf Umverteilung von ursprünglich in der Warenproduktion entstandenen Einkommen.[3]

Reproduktionsarbeit, Sozialstaat und Grundeinkommen

Reproduktionsarbeit ist produktiv im ganz allgemeinen Sinne, dass sie nützliche Arbeit ist. Aber es wäre falsch, sie als kapitalistisch produktiv in dem Sinne zu betrachten, dass sie den Wert der Ware Arbeitskraft oder gar Mehrwert produziere. Die Arbeitskraft ist eine sehr spezielle Ware, die untrennbar ihrem natürlichen Träger gehört. Dieser ist im Kapitalismus normalerweise eine freie Person und selbst keine Ware. Ökonomisch betrachtet produziert Reproduktionsarbeit verschiedenste Dienstleistungen, die für die Reproduktion der Menschen notwendig sind. Diese können und werden zunehmend auch als Waren oder in öffentlich organisierter Erwerbsarbeit produziert, etwa wenn Mahlzeiten kommerziell hergestellt oder geliefert werden, Putz- und andere Haushaltsdienstleistungen gegen Geld in Anspruch genommen, Erziehungs- oder Pflegearbeiten in Einrichtungen oder durch externe Dienstleister erbracht werden. Soweit die Arbeitskräfte gesellschaftlich normal solche Leistungen aus ihrem Lohn (direkt oder indirekt durch Steuern) bezahlen müssen, gehen diese auch in den Reproduktionswert der Arbeitskraft ein. Dieser Wert ist der, der dem Preis der Arbeitskraft, also dem Lohn, zugrunde liegt. Er bestimmt sich nicht durch die zur Reproduktion der Arbeitskräfte insgesamt gesellschaftlich notwendige Arbeit, sondern durch die zur (Re)Produktion derjenigen Güter und Dienste notwendige Arbeit, die die Lohnabhängigen bezahlen müssen.

Wenn normalerweise nicht erwerbstätige Personen den Lohnabhängigen-Haushalten angehören, muss der Lohn, ggf. mit Sozialleistungen, auch für diese Personen reichen. Da die unmittelbare Ausbeutung weiblicher, insbesondere qualifizierter, Arbeitskräfte für das Kapital höheren Mehrwert verspricht und zugleich bisheriger „Famllienlohn“ dann gedrückt werden kann, hat das Kapital Interesse an zunehmender Frauenerwerbstätigkeit und sogar dem Ausbau dafür ggf. notwendiger Einrichtungen – die dann wiederum möglichst privat bzw. kapitalistisch betrieben werden sollen. Das erklärt, wieso auf diesem Feld trotz Neoliberalismus emanzipatorische Fortschritte und ein Ausbau sozialstaatlicher Leistungen gelungen sind.

Weder durch Reproduktionsarbeit im eigenen Haushalt noch durch ehrenamtliche Arbeit oder Gratisleistungen der Natur, und auch nicht durch die als „geronnene Arbeit“ historisch akkumulierten Leistungen der Menschheit in Form von dauerhaften Anlagen wie von Wissen entstehen Einkommen. Es handelt sich dabei um zentrale Grundlagen heutiger Produktion, doch Wertschöpfung findet nur statt, wenn diese durch lebendige Arbeit in der Produktion von Waren genutzt werden. Soweit für die Nutzung dieser Produktionsbedingungen bezahlt werden muss, wird ihr „Wert“ dabei anteilig auf die neuen Produkte übertragen. Doch nur die als Nettowertschöpfung neu produzierten Einkommen sind die Grundlage für kontinuierliche Umverteilung und Finanzierung öffentlicher Leistungen, wie sie im heutigen Kapitalismus insbesondere der Sozialstaat organisiert.[4]

Dies und die sich daraus sich ergebenden Konsequenzen werden von Anhänger*innen eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) häufig ignoriert oder vernachlässigt. Ein BGE wäre eine Geldleistung, die sich im Kauf von Waren (inklusive Dienstleistungen) realisieren können müsste, deren Wert wiederum auf der in ihnen vergegenständlichten abstrakten (Erwerbs)Arbeit beruht. Die Finanzierung eines BGE könnte nur auf der Umverteilung von Einkommen beruhen, die ursprünglich durch abstrakte (Erwerbs)Arbeit produziert werden. Daraus ergeben sich grundsätzliche Beschränkungen und Probleme, etwa die extrem hohen Abgabensätze, die notwendig wären und die die linken, sozialen Varianten eines solchen Konzepts als illusionär erscheinen lassen. Auf keinen Fall könnte ein BGE eine „emanzipatorische Alternative“ zur Erwerbsarbeit sein, da es vollständig auf der fortgesetzten Warenproduktion durch Erwerbsarbeit beruhen würde.[5]

Globalisierung und Nationalstaat

Marx hat den in jeder Hinsicht expansiven Charakter der kapitalistischen Produktion betont und insbesondere, dass sie einen wirklichen Weltmarkt herstellt. Schon die berühmten Passagen im Kommunistischen Manifest (MEW 4, 365f) scheinen die heutige Globalisierung vorwegzunehmen. Seitdem hat sich die internationale Verflechtung der Ökonomie enorm ausgeweitet und vertieft. Transnationale Konzerne organisieren weltweite Produktionsnetzwerke und Wertschöpfungsketten. Neoliberale Globalisierung und EU-Integration haben die Regulierungsmöglichkeiten der Nationalstaaten eingeschränkt. Klimawandel und andere ökologische Probleme, Kriege und Terrorismus, Armut, Ungleichheit und Migration lassen sich nicht allein national bewältigen.

Kapitalistische Globalisierung bedeutet keineswegs, dass die Nationalstaaten fortschreitend an Bedeutung verlieren. Im Gegenteil: Es sind die entwickelten kapitalistischen Staaten, die als Subjekte der internationalen Politik, einschließlich ihrer militärischen Formen, und des Völkerrechts die neoliberale Globalisierung vorantreiben, als Klassenprojekt im Interesse ihres international operierenden Industrie-, Handels- und Finanzkapitals. Moderne Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, die Entwicklung der EU spätestens seit dem Maastricht-Vertrag und der „Krieg gegen den Terror“ markieren neue Formen eines zunehmend autoritären neoliberalen Kapitalismus und Imperialismus, der demokratische Gestaltungsmöglichkeiten einschränkt. Gewerkschaftliche und linke Kritik daran ist unverzichtbar.

Ebenso notwendig ist Kritik an Demokratieabbau, autoritärer und repressiver kapitalistischer Staatlichkeit. Der kapitalistische Staat ist „ideeller Gesamtkapitalist“ (Friedrich Engels). Er bietet aber in diesem Rahmen als „materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“ (Nicos Poulantzas) auch Möglichkeiten, Interessen der beherrschten Klassen und insbesondere der Lohnabhängigen zur Geltung zu bringen. Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat sind historische Errungenschaften, die im Rahmen von Nationalstaaten durchgesetzt wurden. Die in deren Rahmen herausgebildeten Gemeinsamkeiten gesellschaftlicher und politischer Bedingungen und Kulturen, Sprache, Medien, Öffentlichkeiten und Organisationen waren und sind dafür die Grundlagen. International fehlen fast alle Voraussetzungen dafür. Eine pauschale Kritik am (National)Staat führt daher in die Irre. Linker Internationalismus ist solidarischer Einsatz gegen Unterdrückung und für den Aufbau gerechter Verhältnisse in allen Ländern, etwas anderes als Globalismus.

Marx analysierte, dass sich die wesentlichen Durchschnittsbildungen und Regulierungen kapitalistischer Produktion auf der Ebene der nationalen Gesellschaften vollziehen. Das gilt auch heute. Die Weltwirtschaft ist ein System miteinander verflochtener Nationalökonomien, die sich auf jeweils sehr unterschiedlichem Niveau und mit unterschiedlicher Dynamik entwickeln. Insbesondere die Arbeitsmärkte und die staatlichen und tariflichen Regulierungen der Arbeitsverhältnisse sind ganz überwiegend national, in erheblichem Maße sogar regional und lokal strukturiert. Internationale Konkurrenz um die Entgelte internetvermittelter Arbeitsleistungen oder um Lohnkosten innerhalb eines Konzerns und Migration von Arbeitskräften zwischen verschiedenen Arbeitsmärkten sind etwas anderes als internationale Arbeitsmärkte, auf denen sich ein tendenziell einheitlicher Wert gleichartiger Arbeitskraft herausbilden müsste. Der Wert und Preis der Arbeitskraft bilden sich jedoch auf Basis der jeweiligen gesellschaftlichen Reproduktionsniveaus und -kosten, der in historischen Klassenkämpfen entwickelten Lohnstrukturen und der jeweiligen Arbeitsmarktlage, die sich international massiv und auch noch innerhalb eines Landes teils erheblich unterscheiden.

Im 20. Kapitel des ersten Bandes des Kapital „Die nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne“ hat Marx in der Sache die heutige Kategorie der Lohnstückkosten vorweggenommen und dargelegt, dass auf dem Weltmarkt produktivere nationale Arbeit in gleicher Zeit höheren Wert schafft als weniger produktive in anderen Ländern. Die verbreitete Überausbeutung in den ärmeren Ländern muss entschieden bekämpft werden, eine internationale Angleichung der Löhne, jedenfalls wenn sie die Breite der Lohnabhängigen erreichen soll, kann aber nur auf einer entsprechenden Angleichung der gesellschaftlichen Produktivitätsniveaus beruhen. Die Eurokrise hat schlagend deutlich gemacht, wozu übermäßige Differenzen der Lohnstückkostenentwicklungen zwischen verschiedenen Ländern führen, wenn sie nicht durch Wechselkursveränderungen ausgeglichen werden können (ohne das jetzt zur alleinigen Ursache der Krise erklären zu wollen).

Die gesellschaftlich „normalen“ Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen prägen sich dominant auf der nationalstaatlichen Ebene aus. Das gilt insbesondere auch für die Sozialstaaten, soweit es sie gibt. Diese beziehen sich immer auf die Menschen, die auf dem Territorium dieser Staaten leben. Diesen werden soziale Leistungen geboten, diese werden auch zur Finanzierung herangezogen. Wer sich gegen den „nationalen Sozialstaat“ wendet (wie etwa Thomas Seibert), wendet sich faktisch gegen den Sozialstaat überhaupt, denn einen anderen gibt es nicht. International muss es Linken darum gehen, möglichst hohe soziale Mindeststandards zu vereinbaren, die sich aber auf die jeweils nationalen Einkommensniveaus beziehen, und den Sozialstaat vor Marktliberalisierung und Privatisierung zu schützen.

Die reale Klasse organisieren und mit ihr kämpfen

Klassenherrschaft ist mehr als eine Diskriminierungsform neben anderen, mehr als Klassismus oder Benachteiligung wegen sozialer Lage oder Herkunft. Klassenverhältnisse sind Ausdruck der die Gesellschaften und ihre Dynamik fundamental strukturierenden kapitalistischen Produktions-, Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse. Die Formierung der Klasse als nicht nur abstrakte ökonomische Kategorie, sondern als gesellschaftliche Großgruppe, die auch in sozialen Kämpfen und politisch relevant ist, vollzieht sich auf Basis der genannten realen Gemeinsamkeiten dominant ebenfalls auf der Ebene der Nationen bzw. Staaten, insbesondere in Kämpfen gegen den kapitalistischen Klassengegner. Die lohnabhängige Klasse ist dabei in ständiger Veränderung und muss sich mit neuen Individuen immer wieder neu formieren und dabei gerade auch Zugewanderte in ihre sozialen Zusammenhänge, Organisationen und Kämpfe integrieren. Dies zu befördern und solidarisch zu gestalten ist die klassenpolitische Herausforderung der Linken.

Das Tagesgeschäft der gewerkschaftlichen und politischen Arbeit ist in meiner Sicht konkreter Klassenkampf in seinen verschiedenen Arenen und Formen, von betrieblichen Kämpfen über Tarifauseinandersetzungen auf Unternehmens- oder Branchenebene bis hin zu politischen Konflikten und Kampagnen. Es reicht nicht, den Kapitalismus nur global und grundsätzlich zu kritisieren und seine Überwindung zu fordern, zumal ein überzeugendes Real-Modell einer Alternative nicht gezeigt werden kann. Die von ihnen selbst artikulierten Interessen der Lohnabhängigen richten sich primär auf möglichst „gute“ Erwerbsarbeit, „gerechte“ und steigende Einkommen, soziale Sicherheiten und Chancen sowie gute Infrastrukturen, Daseinsvorsorge und Lebensbedingungen vor Ort, die unter den gegebenen Bedingungen tatsächlich realisiert werden können. Diese Interessen müssen Gewerkschaften und Linke aufgreifen. Ihre Unterstützung durch die Lohnabhängigen und damit ihre Macht hängt wesentlich davon ab, inwieweit sie sich hier als nützlich zeigen. Ein Kernprojekt für eine erfolgreiche Linke im entwickelten Kapitalismus ist die Weiterentwicklung des Sozialstaats. „Sozialstaat“ ist von links und in der Bevölkerung positiv besetzt und es ist hegemoniepolitisch wichtig, dies gegen Angriffe der Neoliberalen zu verteidigen.

Gewerkschaften und Linke müssen am Alltagsbewusstsein der Menschen anknüpfen und die Gerechtigkeitsvorstellungen aufgreifen und solidarisch fortentwickeln, die unter den Lohnabhängigen geteilt und unterstützt werden – und zugleich den Horizont für eine andere Gesellschaft offen halten. Neben dem sozialen Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit gilt dies auch für die Leistungsgerechtigkeit. Statt diese als ein kapitalistisches oder neoliberales Prinzip zu betrachten, kommt es darauf an, was unter Leistung verstanden werden soll. Die extrem ungerechten kapitalistischen Verteilungsverhältnisse beruhen gerade nicht auf Arbeitsleistung, sondern auf Ausbeutung, kapitalistischer Aneignung unbezahlter Arbeit. Das muss die zentrale Botschaft sein. Der Neoliberalismus sagt „Leistung“, aber meint Erfolg und die Anerkennung jeglicher Marktergebnisse als „gerecht“. Wenn demgegenüber Leistung als Arbeitsleistung verstanden und im Wesentlichen an der Quantität der notwendigen Arbeit (nicht nur im Erwerbsbereich) festgemacht wird, ist eine auf Leistung und Gegenleistung beruhende Gerechtigkeitsvorstellung sozialistisch und links. Das entspricht auch Marx’ Äußerungen in seiner Kritik des Gothaer Programm (MEW 19, 20f). Es ist politisch sinnvoll und war eines der Erfolgsrezepte der Arbeiterbewegung, dies antikapitalistisch gegen den unverdienten Reichtum der herrschenden Klassen zu wenden.

Marx und Engels haben im Kommunistischen Manifest formuliert, was auch heute noch eine gute Richtschnur für das Handeln der Linken ist:

„Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. […] unterscheiden sich […] dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. […] sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder.” […] “Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung.” (MEW 4, 474 u. 492)

Anmerkungen

[1] Vgl. zu einer Kritik linker Illusionen: Fischbach, Rainer: Digitale Wunder, in: Neues Deutschland v. 12.08.2017, www.neues-deutschland.de/artikel/1060386.digitale-wunder.html17

[2] Vgl. Krämer, Ralf, 2015: Die Roboter kommen, die Arbeit geht?, in: Luxemburg, H.3, www.zeitschrift-luxemburg.de/die-roboter-kommen-die-arbeit-geht

[3] Zur werttheoretischen Analyse der digitalen Ökonomie vgl. Krämer, Ralf, 2017: Wertschöpfung und Mehrwertaneignung in der digitalen Ökonomie, in: Z, Nr. 110, www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/3172.wertschoepfung-und-mehrwertaneignung-in-der-digitalen-oekonomie.html

[4] Mehr vgl. Krämer, Ralf, 2017: Zur politischen und moralischen Ökonomie des Sozialstaats, in: Sozialismus 6/2017, www.sozialismus.de/detail/artikel/zur-politischen-moralischen-oekonomie-des-sozialstaats-und-linker-sozialpolitik/

[5] Vgl. Bedingungsloses Grundeinkommen. Risiken und Nebenwirkungen einer wohlklingenden Idee, ver.di Wirtschaftspolitik-Informationen 4/2017, wipo.verdi.de/publikationen/++co++ab29a9ba-db39-11e7-ade4-525400940f89