Gastbeitrag von Prof. Dr. Stefan Sell (zuerst erschienen auf Aktuelle Sozialpolitik)
Hat die Gewerkschaft ihre Koordinaten verloren und taumelt sie jetzt orientierungslos durch die prekäre Zone der Arbeitswelt, die sie jahrelang mit Kampagnen und wortgewaltigen Verurteilungen gebrandmarkt hat? Diese Frage mag sich dem einen oder anderen nach der Konfrontation mit dieser Nachricht durchaus stellen: IG Metall stimmt Zeitarbeit bis zu vier Jahren zu: »In der Metall- und Elektroindustrie können Leiharbeiter künftig bis zu 48 Monate in einem Betrieb beschäftigt werden – statt 18 Monaten, wie es das seit 1. April in Kraft getretene Gesetz vorsieht.« Im vergangenen Jahr hatte die Große Koalition das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) mit Wirkung zum 1. April 2017 geändert, u.a. wurde festgelegt, dass ein Leiharbeiter maximal 18 Monate lang an denselben Betrieb ausgeliehen werden darf. »Es sind jedoch Ausnahmen möglich, wenn Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften abweichende Vereinbarungen treffen. Im Fall der Metall- und Elektroindustrie haben sich der Arbeitgeberverband Gesamtmetall und die IG Metall auf die Änderungen verständigt.«
Der Gewerkschaft schein selbst mulmig zu sein, folgt man den Rechtfertigungsversuchen, die in dem Artikel zitiert werden:
IG-Metall-Vorstandsmitglied Juan-Carlos Rio Antas sagte: „Das ist aber nur möglich, wenn die Arbeitnehmervertreter dem freiwillig zustimmen.“ Zudem verweist die Gewerkschaft darauf, dass die obligatorische Betriebsvereinbarung den Betriebsräten die Möglichkeit biete, die Bedingungen für Leiharbeiter zu verbessern, etwa durch zusätzliche Zulagen oder eine höhere Eingruppierung.
Wenn …, Möglichkeit … – das klingt weitaus weniger konkret als diese Feststellung: „Die Arbeitgeber zeigten sich zufrieden mit der Regelung.“
»Während am Mittwoch von der IG Metall offiziell auf Anfrage kein Statement zu bekommen war, bestätigte Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander … den Abschluss einer entsprechenden Rahmenvereinbarung zwischen den Tarifparteien auf Bundesebene. Auf die Inhalte habe man sich bereits im Februar geeinigt. Alles werde nun in den kommenden Wochen voraussichtlich zügig in regionale Tarifverträge mit den jeweiligen, für die Tarifpolitik federführenden IG-Metall-Bezirken einfließen«, berichtet Hans-Gerd Öfinger in seinem Artikel Zementierte Spaltung. »Gesamtmetall sei sich mit der Gewerkschaft einig, dass ohne konkreten Sachgrund künftig eine Verleihdauer von maximal 48 Monaten möglich sein soll, wenn dies freiwillig zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung vereinbart wurde.« Und dann gibt es noch einen Schluck aus der Pulle (für die Arbeitgeber) dazu: »Bestünden Sachgründe, etwa in Form konkreter Projekte, so solle – ebenfalls auf freiwilliger Basis – eine über 48 Monate hinausgehende Verleihdauer möglich sein.« Kein Wunder, dass sich die Arbeitgeber zufrieden zeigen.
An dieser Stelle lohnt der Blick auf die Seite der Verleihfirmen, denn dort wird das, was heute in den Medien hochkocht, schon seit längerem diskutiert. Beispielsweise auf der Website der Dahmen Personalservice GmbH. Dort findet man den Beitrag Höchstverleihdauer in der Zeitarbeit: TV LeiZ erhöht auf 48 Monate, der bereits am 21. März 2017 veröffentlicht worden ist. Und dort kann man dann diesen Hinweis lesen: »Der am 01.03.2017 geschlossene TV LeiZ verlängert die Höchstverleihdauer auf bis zu 48 Monate.« Es geht um den Tarifvertrag Leih- und Zeitarbeit (TVLeiZ) der von dem Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg mit IG Metall abgeschlossen wurde.
Bei der Umsetzung der nun möglichen Verlängerung der Leiharbeit über die eigentlich vom Gesetzgeber normierten 18 Monate muss man grob zwei unterschiedliche Anwendungsbereiche unterscheiden:
- In tarifgebundenen Unternehmen (der Entleihbranche), die eine Betriebsvereinbarung zur Leiharbeit haben, kann diese problemlos auf 48 Monate bezogen auf einen konkreten Leiharbeiter verlängert werden.
- In tarifgebundenen Unternehmen (der Entleihbranche) ohne eine Betriebsvereinbarung zur Leiharbeit ist das Prozedere etwas komplizierter: Der Entleiher muss nach 18 Monaten prüfen, ob er dem Leiharbeiter ein Angebot zur Übernahme machen kann. Nach 24 Monaten muss der Kunde dem Leiharbeiter zwingend ein solches Angebot unterbreiten. Nur wenn der Leiharbeiter ablehnt, kann insgesamt bis zu 48 Monate überlassen werden.
Verkehrte Welt? Wie kann das alles sein? Da begrenzt ein Gesetz die für Leiharbeiter zulässige Überlassungshöchstdauer auf 18 Monate und die Gewerkschaft schließt mit den Arbeitgebern einen Tarifvertrag, der diese Höchstdauer nicht etwa nach unten begrenzt, sondern sie erheblich verlängert?
An dieser Stelle muss allerdings daran erinnert werden, was für ein Gesetz die Große Koalition da im vergangenen Oktober unter Federführung der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) in die Welt gesetzt hat. Das Gesetzgebungsverfahren und das Ergebnis ist in diesem Blog intensiv und kritisch begleitet worden. Dass das, was IG Metall und Arbeitgeber da vereinbart haben, in dem Gesetz bereits angelegt ist, wurde beispielsweise in diesem Beitrag herausgearbeitet: Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen, veröffentlicht am 21. Oktober 2016. Dort findet man bereits die Quelle für das, was die teilweise sicher erstaunte Öffentlichkeit jetzt, im April 2017, zur Kenntnis nehmen muss:
Die Zielsetzung des Koalitionsvertrags hinsichtlich der Überlassungsdauer lässt sich auf diese Formel eindampfen: 18 (+ x).
Damit ist das hier gemeint: Die Präzisierung des „vorübergehenden“ Verleihs soll durch eine Fixierung der zulässigen Höchstdauer auf 18 Monate präzisiert werden – zugleich werden „abweichende Lösungen“ durch tarifvertragliche Regelungen in Aussicht gestellt.
Was ist daraus geworden? Auch hier wieder ein Formel-Ansatz:
18 + (ohne Obergrenze) oder (24).
Das sieht nicht nur nicht einfacher aus, sondern ist auch komplizierter und (noch) problematischer als schon der ursprüngliche Ansatz mit den 18 Monaten, geschweige denn der tarifvertraglichen Öffnungsklausel.
Wir bekommen also eine „Obergrenze“ von 18 Monaten. Sogleich folgt allerdings die Umsetzung der (+ x)-Öffnungsklausel, denn in einem Tarifvertrag (der Tarifparteien der Einsatzbranche wohlgemerkt) können abweichenden Regelungen und eine längere Einsatzdauer vereinbart werden. Damit gibt es im Fall der tarifvertraglichen Regelung nach oben keine definierte Grenze bei der Überlassungsdauer. Aber es kommt noch „besser“: Diese Option gilt aber nicht nur für tarifgebundene Unternehmen auf der Entleiher-Seite, denn: Im Geltungsbereich eines Tarifvertrages der Einsatzbranche können auch nicht tarifgebundene Entleiher von der Höchstüberlassungsdauer abweichende tarifvertragliche Regelungen durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen übernehmen. Bei denen wird dann aber eine zweite Höchstüberlassungsdauergrenze eingezogen, die bei 24 Monate liegt.
Offensichtlich geht hier einiges durcheinander. Das Ziel einer Stärkung der Tarifparteien (das hebt die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) immer so hervor) wird erkennbar, zugleich aber hinten rum wieder ausgehebelt. Die zitierte Öffnungsklausel konterkariert im Ergebnis die Besserstellungsabsicht der Tarifebene, da den nicht-tarifgebundenen Unternehmen ein weitgehend gleicher Vorteil ermöglicht wird, so dass mehr als begründungsbedürftig ist, wo hier eine anvisierte Stärkung der Tarifbindung angereizt werden soll. Eher das Gegenteil ist der Fall.
Und mal grundsätzlich gedacht: Ist es nicht eigentlich der Sinn tarifvertraglicher Regelungen, dass damit die Arbeitnehmer besser gestellt werden und gerade nicht schlechter? Man muss sich klar machen: Hier wird durch einen Tarifvertrag eine Abweichung ermöglicht, bei dem sich die betroffenen Leiharbeitnehmer schlechter stellen als würde es nur die gesetzliche Begrenzung auf 18 Monate geben.
Und genau das ist jetzt umgesetzt worden.
»Unterdessen mehren sich unter Gewerkschaftern auch kritische Stimmen, die in einer heraufgesetzten Verleihdauer einen weiteren Vorstoß zur Verewigung von Leiharbeit und damit zur Zementierung der Spaltung der abhängig Beschäftigten durch die Prekarisierung von Arbeitsbedingungen sehen. »Damit wird Leiharbeit immer mehr verewigt«, befürchtet ein ehemaliger VW-Betriebsrat aus Wolfsburg«, so Hans-Gerd Öfinger in seinem Artikel Zementierte Spaltung.
»Diesen Abschluss hätte ich von christlichen Gewerkschaften erwartet, aber nicht von der IG Metall. Wenn das Gesetz am Ende besser ist als der Tarifvertrag, dann fragt sich der mündige Gewerkschafter, wozu er eine Gewerkschaft braucht, die solche Tarifverträge abschließt«, kommentierte die niedersächsische Bundestagsabgeordnete und IG-Metall-Gewerkschaftssekretärin Jutta Krellmann (LINKE): »Leiharbeiter werden zur Verhandlungsmasse zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern gemacht. Unter den Augen und mit Zustimmung der IG Metall wird die Zwei-Klassen-Belegschaft weiter zementiert«, so die Gewerkschafterin.
Man kann das auch so formulieren wie bereits in meinem Beitrag Eine weichgespülte „Reform“ der Leiharbeit und Werkverträge in einer Welt der sich durch alle Qualifikationsebenen fressenden Auslagerungen vom 1. April 2017: »Früher hat man noch lernen dürfen, das Tarifverträge dazu dienen, die Situation der Arbeitnehmer zu verbessern. Das reformierte AÜG hingegen produziert eine irritierende Rolle rückwärts. Das von Andrea Nahles immer wieder vorgetragene Ziel einer Stärkung der Tarifparteien wird im AÜG jetzt so umgesetzt, dass zum einen die Besserstellungsabsicht der Tarifebene konterkariert wird, da den nicht-tarifgebundenen Unternehmen ein weitgehend gleicher Vorteil ermöglicht wird. Aber noch schlimmer: Die Tarifvertragsparteien (wohlgemerkt der Entleihbetriebe) können schlechtere Bedingungen für die Leiharbeiter vereinbaren und das auch noch verlängern. Tarifpolitik absurd, mag der eine oder andere an dieser Stelle denken.«
Aber warum machen die Gewerkschaften, in diesem Fall die IG Metall, das mit? Hier bewegen wir uns als Beobachter natürlich auf einer spekulativen Ebene, aber eine durchaus plausible Vermutung könnte so lauten: Die IG Metall ist wie jede Gewerkschaft eine Mitgliedsorganisation, aber nicht alle Mitglieder sind gleich. Neben dem normalen Mitglied gibt es die Funktionäre, die Gewerkschaftsführung und eben auch besonders einflussreiche Mitglieder, die eine wesentlich größere Bedeutung haben als die normalen Mitglieder. Dazu gehören sicherlich die Betriebsräte der großen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie, in denen die Industriegewerkschaft quantitativ und qualitativ verankert ist. Und bei den Betriebsräten beispielsweise der deutschen Automobilhersteller ist klar, dass deren Unternehmen die Leiharbeiter als flexible Randbelegschaft fest eingeplant haben, dass sie nicht auf sie verzichten wollen und werden, wenn man sie dazu nicht zwingt. Und das – hier wird es heikel – die schlechteren Bedingungen, unter denen die Leiharbeiter arbeiten müssen, gleichsam eingepreist sind in den wesentlich besseren Bedingungen der Stammbelegschaft, die also von der Randbelegschaft gleichsam „profitiert“.
Und man könnte auch durchaus die Vermutung aussprechen, dass hier ein Vertrag zu Lasten Dritter, also der Leiharbeiter, abgeschlossen wird, weil was wäre denn die Alternative für die Gewerkschaft? Dass die Arbeitgeber den Leiharbeiter die gleichen Bedingungen gewähren wie der Stammbelegschaft? Wünschenswert, aber aus Sicht der Arbeitgeber keine echte Option. Die würden auf eine Öffnung des bestehenden Tarifvertrags für die normalen Beschäftigten nach unten bestehen. Und genau das wird eine Gewerkschaft aus institutionenegoistisch nachvollziehbaren Gründen zu vermeiden versuchen, so lange es irgendwie geht.
Und um das alles abzurunden: Bereits im vergangenen Jahr musste in diesem Blog von einem weiteren Entgegenkommen der Gewerkschaften berichtet werden: Habemus Tarifabschluss. Für die Leiharbeit. Das gefällt nicht jedem, so ist ein Beitrag vom 1. Dezember 2017 überschrieben. Darin wurde berichtet, dass die DGB-Tarifgemeinschaft Leiharbeit mit den Arbeitgebern der Leiharbeitsbranche einen neuen Tarifvertrag ausgehandelt hat, der neben Lohnerhöhungen für die Leiharbeiter vor allem auffällt durch seine von der Arbeitgeberseite besonders gelobte lange Laufzeit: Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von 36 Monaten und endet zum 31.12.2019.
Man muss an dieser Stelle wissen, dass das Gesetz, also das AÜG, eigentlich vorsieht: „equal pay“, also gleicher Lohn für die Leiharbeiter wie die Stammbeschäftigten. Es sei denn, von diesem Grundsatz wird abgewichen, weil in einem eigenen Tarifvertrag eine („natürlich“ nach unten) abweichende Vergütung der Leiharbeiter fixiert wird. Was aber auch bedeuten kann, dass wenn die Gewerkschaften keinen Tarifvertrag mehr abschließen, dass dann „equal pay“ gelten muss. Darauf wurde von der innengewerkschaftlichen Opposition immer wieder hingewiesen. Aber offensichtlich haben die Gewerkschaften im Tarifverbund des DGB diese Option verworfen und sich für eine Zementierung des besonderen Status der Leiharbeiter entschieden.
Das alles zusammen wird sicher in den kommenden Wochen und Monaten für Diskussionen sorgen in den Gewerkschaften, allen voran in der IG Metall. Man darf gespannt sein, was hier in welchem Umfang offen gelegt wird. Eines sollte man dabei auf alle Fälle beherzigen – man sollte nicht versuchen, die Leute für blöd zu verkaufen.
Die Arbeitgeber haben eine ganz andere Perspektive – sie müssen nach der IG Metall die IG BCE überzeugen, es den Metallern gleich zu tun und die Verlängerungsoption tarifvertraglich zu verankern. Es braucht sicher keine prognostischen Kompetenzen um darauf zu wetten, dass wir bald auch in der Chemie-, Energie- und Bergbauindustrie eine vergleichbare Regelung vorfinden werden.
Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht auf dem Blog des Autors: „Aktuelle Sozialpolitik“. Wir danken für die Erlaubnis, den Artikel auf unserer Seite nachzudrucken.
Quelle: Stefan Sell (2017): Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wird. Aktuelle Sozialpolitik, 19.04.2017