Christian Frings, Artikel nachgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Labour.Net
Gewerkschaften kämpfen für das Wohl der Beschäftigten, ist doch klar, oder? Was aber, wenn Gewerkschaften, wie dir ver.di kämpferische Streiks verhindern und bremsen, anstatt sie zu ermutigen? Unser Gastautor Christian Frings diskutiert am Beispiel einer aufgezeichneten Streikversammlung bei Vivantes, ob die Gleichsetzung von Klassenkampf mit Gewerkschaft nicht zu hinterfragen wäre.
Der zehnminütige Video-Mitschnitt aus einer Streikversammlung von Streikenden bei der Vivantes Service GmbH, einer Tochterfirma des Berliner Krankenhausbetreibers Vivantes, bietet einen höchst aufschlussreichen Einblick in das Innenleben von Arbeiterklasse und gewerkschaftlichen Kämpfen, das bei den jetzt überall in der Linken geführten Diskussionen um „neue Klassenpolitik“ und den verlorengegangenen Bezug auf die Arbeiterklasse in der Regel eine „black box“ bleibt. Es lohnt sich daher, den Verlauf der Diskussion im Detail zu betrachten. Zumal dieses Video selbst einen Ausnahmefall darstellt – in der Regel bemühen sich Gewerkschaften, interne Diskussionen wie auf einer Streikversammlung dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen. Begründet wird dies mit dem durchaus richtigen Argument, dass sonst der „Feind“, d.h. das Unternehmen, gegen das sich der Streik richtet, zu viel Informationen über die Streiktaktik oder Spaltungslinien unter den Streikenden mitbekommen und gegen den Streik verwenden könnte. Aber was, wenn der „Feind“ schon längst mitten unter den Streikenden sitzt? Und wenn es gar nicht darum geht, den Streik wirksam und machtvoll zu gestalten, sondern nur noch darum, wie er schnellstmöglich beendet werden kann? Genau das lässt sich in dem Video schön beobachten und es sollte in der Linken eigentlich Fragen aufwerfen, ob ihre ständige Gleichsetzung von Klassenkampf mit Gewerkschaft nicht dringend zu hinterfragen wäre.
Dringend gerade deshalb, weil solche Abläufe im Kleinen auch etwas darüber erzählen, warum rechter Populismus an vielen Orten in dieser Gesellschaft erfolgreich sein kann. Und warum linke Politik dem nichts entgegenstellen kann, solange sie sich ihren Bezug auf Arbeiterklasse nur noch über die sozialpartnerschaftliche Vermittlungsinstanz Gewerkschaft vorstellen kann, statt sich unmittelbar und direkt auf das Proletariat und seine Probleme zu beziehen – indem wir zum Beispiel einfach mal mit den eigentlichen Akteurinnen und Akteuren eines solchen Streiks reden, statt uns immer gleich an die selbsternannten professionellen Repräsentanten solcher Konflikte zu wenden.
Der Ausgangspunkt der Situation bei der Vivantes Service GmbH und des Streiks ihrer Beschäftigten ist exemplarisch für tausende solcher Situationen in Deutschland: Ein großer Konzern, der aus einem finanzmarktgetriebenen Konzentrationsprozess hervorgegangen ist, lagert einzelne Bereiche in Zulieferfirmen aus. Dass es sich bei Vivantes quasi um einen Staatsbetrieb, hier in kommunaler Hand, handelt, zeigt lediglich, wie weit sich auch der Staat in den letzten Jahrzehnten den neoliberalen Strategien der Kapitalverwertung unterworfen hat. Mit der Auslagerung von Bereichen wie Sterilisation, Krankenbegleitservice, Logistik usw. soll die Belegschaft gespalten und ein gemeinsamer Kampf der angeschwollenen Gesamtbelegschaft verhindert werden. „Zentralisierte Dezentralisierung“ ist die Strategie – auf Kapitalseite wird die Geldmacht gebündelt, auf Arbeiterseite soll aber jede Vereinheitlichung und Nutzung des objektiv größeren Machtpotentials verhindert werden. Die Gewerkschaften haben schon lange ihren Kompromiss mit dieser Strategie gefunden. Bei den ersten Auslagerungen gibt es noch ein bisschen Protest, dann geht es nur noch darum, auch die ausgelagerten Bereiche in eine von den Gewerkschaften verwaltete tarifliche Regulierung zu bekommen, um den Preis, dass dort dann zwar Tarif und Betriebsrat existieren, die Bedingungen aber oft deutlich schlechter als bei den im Konzern verbliebenen Stammbelegschaften sind. So bekommen die Beschäftigten der Vivantes Service GmbH bis zu 40 Prozent weniger Lohn als die sogenannten „Gestellten“, die noch Arbeitsverträge mit dem Mutterkonzern haben.
Eine moralische Kritik daran geht an den Gewerkschaften vorbei, weil sie letztlich auch nur Wirtschaftsbetriebe sind, die auf ihre Ausgaben und Einnahmen achten müssen. In dieser betriebswirtschaftlichen Logik ist es einfach sinnvoller, sich auf die stabiler beschäftigten und daher besser dauerhaft organisierbaren Stammbelegschaften zu konzentrieren, als zu viel Geld und Personal auf fluktuierende Randbelegschaften zu vergeuden. Das weiß jede hauptamtliche Gewerkschaftssekretärin und es wird ihr oder ihm täglich im Apparat vermittelt, dass von der Befolgung dieser selektiven Tagespolitik letztlich auch ihr oder sein Job abhängt. Wer das von links oder von einer Position des Klassenkampfs aus kritisieren will, müsste sich materialistisch mit den Grundlagen unseres verrechtlichten und institutionalisierten Systems industrieller Beziehungen im sozialstaatlich befriedeten Kapitalismus auseinandersetzen, statt kurzschlüssig Klassenkampf mit Gewerkschaft gleichzusetzen. Die eigentlich sehr zu begrüßende Debatte über eine „neue Klassenpolitik“ leidet zur Zeit noch darunter, dass die konkreten Vermittlungsformen, die sich der Kapitalismus in den letzten 150 Jahren schaffen konnte, um den Klassenkonflikt in den reichen Metropolen seines Weltsystems zu befrieden und stillzulegen, nicht wirklich analysiert und in die Vorschläge für unsere eigene Politik einbezogen werden. Daher landen gutgemeinte Versuche, proletarische Kämpfe zu unterstützen, nur zu leicht in den Fesseln der staatlich regulierten und gewerkschaftlich moderierten Rituale der ohnmächtigen Konfliktverwaltung – was mit der ständigen Verschärfung der kapitalistischen Angriffe auf unsere Lebensbedingung zu einem zunehmenden Misstrauen in der Arbeiterklasse gegenüber linker Politik führen muss.
Vor diesem Hintergrund lässt sich der auf den ersten Blick skurril oder skandalös wirkende Ablauf auf dieser Streikversammlung besser verstehen. Während die Beschäftigten lebhaft und mit konkreten Vorschlägen darüber diskutieren, wie sie ihren mittlerweile 28 Tage andauernden Streik trotz der unnachgiebigen Haltung des Arbeitgebers zum Erfolg bringen können, wechselt die anwesende Spitzenfunktionärin von ver.di auf einmal ihre Rolle, setzt sich – mit dem albernen formalen Hinweis auf ihre Mitgliedschaft im Aufsichtsrat von Vivantes, dank deutscher Mitbestimmung – den „Hut“ des Kapitalisten auf, erklärt den anwesenden Streikenden die „Sachzwänge“ des Systems und wirbt um Verständnis für die armen Unternehmer, die ja auch nur ordentlich ihren Job machen und im Verhältnis zu anderen Managern gar nicht sooo viel verdienen würden. Während die streikenden Gewerkschaftsmitglieder noch glauben, mit dieser Spitzenfunktionärin ernsthaft über eine erfolgreiche Fortführung des Streiks sprechen zu können, läuft in deren Kopf schon ein ganz anderer Film ab: Wie kriegen wir als Organisation diesen schon viel zu lang und zu teuer gewordenen Streik möglichst schnell und mit den geringst möglichen Verlusten (z.B. durch Mitgliederaustritte oder Imageschaden) beendet? Von ihrem Standpunkt aus ist dies eine völlig korrekte betriebswirtschaftliche Überlegung, die dem Erhalt des Wirtschaftsunternehmens ver.di dient. Darin einen Skandal sehen kann nur, wer dem Unternehmen Gewerkschaft auf idealistische Weise einen völlig anderen Zweck als den wirklichen unterstellt.
Wer innerhalb von Gewerkschaften eine Karriere als Hauptamtlicher durchläuft, bekommt schon früh vermittelt, dass die wichtigste Qualifikation eines Gewerkschaftssekretärs im Streikgeschehen nicht darin besteht, einen Streik zu beginnen und erfolgreich zu führen, sondern ihn beenden zu können. Im Alltagsgeschäft von Gewerkschaften sind Streiks ein unvermeidliches Übel, keineswegs das Ziel. Sie dienen der Selbstdarstellung als kämpferische Repräsentation von Arbeiterinnen und Arbeitern, um zahlende Mitglieder zu gewinnen. Die Ziele eines Streiks, die Verbesserung von Arbeitsbedingungen oder Entlohnung, sind lediglich Mittel zum Zweck. Diese Verkehrung von Ziel und Mittel, die Verselbständigung des Organisationserhalts als primärem Zweck, dem die nach außen propagierten Ziele faktisch untergeordnet werden, wurde schon vor über hundert Jahren von Soziologen wie Robert Michels als „ehernes Gesetz der Oligarchie“ beschrieben und analysiert. Aber wie wir von Marx wissen, kann wissenschaftliche Kritik alleine nie die Wirksamkeit von Ideologie und ideellen Verkehrungen vertreiben – sie wachsen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit aus den materiellen Verhältnissen hervor und verfestigen sich gleichermaßen in den Köpfen der breiten Massen wie in den kritischen Hirnen der linken Intelligenz. Allerdings könnte die Aufgabe einer kritischen linken Intelligenz darin bestehen, diese Zusammenhänge zu durchleuchten und zu analysieren. In ihrer Praxis könnten sie sich dann auf die bisher noch marginalen Momente in konkreten, auch gewerkschaftlich verwalteten, Konflikten beziehen, in denen so etwas wie proletarisch-selbständige Führung des Kampfs aufblitzt und Kolleginnen und Kollegen tatsächlich versuchen, die Machtfrage zu stellen, indem sie nach den Punkten suchen, an denen dem Kapital ein ernsthafter ökonomischer Schaden zugefügt werden kann.
Dafür sind diese kurzen zehn Minuten Diskussion sehr aufschlussreich. Die Spitzenfunktionärin verhält sich mehr oder weniger wie nach den gewerkschaftsinternen Schulungsunterlagen: Erst mal die Streikenden loben, wie toll und engagiert sie kämpfen; davon reden, dass Druck aufgebaut werden muss; dann allmählich Bedenken einflechten, den bösen Unternehmer anklagen, weil er durch Leiharbeiter den Streik unterläuft (na was denn sonst, das ist sein Job – der Job einer guten Streikleitung wäre es, das wirkungsvoll zu verhindern); an allen Punkten, an denen ein bisschen „Klassenhass“ aufkommt, vor einer „Neiddebatte“ warnen und sich schützend vor die Sachzwänge des Kapitalismus stellen; und es schließlich den Streikenden überlassen, sich durch Hinweise auf Ermüdungserscheinungen und die Frage, wie viel Verzicht noch als „Erfolg“ zu verkaufen wäre, auf das baldige Ende des Streiks einzustellen. Nur das mit dem Aufsetzen des „Unternehmerhuts“ ist ein bisschen ungeschickt und entblößend, und wäre einem besser geschulten IG-Metall-Funktionär sicherlich nicht passiert; der hätte auf seine nächtelangen und schweißtreibenden Rededuelle im Aufsichtsrat für die gute Sache verwiesen.
In der Diskussion unter den Kolleginnen und Kollegen, in die sie irrtümlicherweise auch ihre ver.di-Funktionärin einzubeziehen versuchen, stehen sich zwei Logiken gegenüber, ohne dass dies allen wirklich klar wird. Das eine ist die Logik von zwei Klassen, die gegeneinander kämpfen. Das ist eine Machtfrage und es geht darum, wie möglichst effektiv Druck ausgeübt werden kann. Die Frage, woher das Geld kommt, wie die kapitalistischen und staatlichen Strukturen das in ihren diversen Kostenstellen verbuchen oder welche der Pappnasen was entscheidet, ist dabei völlig uninteressant. Wenn wir von den Unternehmern ausgebeutet werden, müssen wir uns nicht auch noch den Kopf darüber zerbrechen, wie sie die Bezahlung unserer Arbeitskraft buchhalterisch sortiert bekommen. Es geht schlicht um unser Überleben.
Das andere ist die Logik der Verteilung von Geld aus einem vorgegebenen Topf fixer Größe; ein Verteilungskampf in gesamtwirtschaftlicher Verantwortung, d.h. die Berücksichtigung des begrenzten Geldtopfs, aus dem alles Mögliche bezahlt werden kann oder muss. In dieser zweiten Logik gibt es keine Klassen mehr, sondern nur noch einzelne diffuse Gruppen von Einkommensbeziehern, zu denen neben Arbeiterinnen, Managern, Beamten usw. dann auch die Geflüchteten aus Syrien gehören können. Als ein Kollege in dieser Logik auf vier Mrd. Euro hinweist, die für die „Syrer“ zur Verfügung steht, wird er von der Mehrheit der Streikenden politisch korrekt zur Ordnung gerufen. Aber damit verpassen auch die anwesenden Linken den eigentlich interessanten Aspekt seines Beitrags – dass nämlich diese, auch von den Gewerkschaften gepflegte Verteilungslogik die Leute in Zeiten fehlender Klassenkämpfe unweigerlich in die Arme von AfD und anderen rechten Gruppen treibt. Denn wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter keine Perspektive mehr sehen, eigene Macht zur Durchsetzung ihres Überlebensinteresses zu entwickeln (und tragischerweise sind die Gewerkschaften stark daran beteiligt, sie dieser Perspektive zu berauben), dann kann das Fehlen eigener Macht nur durch die Anrufung einer anderen, sprich staatlichen Macht kompensiert werden; dann kann das eigene Interesse nur noch als besonderes im Nullsummenspiel begrenzter Geldtöpfe gesehen werden, d.h. ich kann nur etwas bekommen, wenn es anderen weggenommen wird. Und am leichtesten lässt es sich immer denen wegnehmen, die sich leichter gesellschaftlich und politisch diskriminieren lassen, ob es nun Frauen, Alte, Ausländer oder Geflüchtete sind – die staatlicherseits zugeschriebenen „Identitäten“ spielen hier die entscheidende Rolle.
Dass diese Logik der Geldverteilung statt Klassenkampf nicht nur von der ver.di-Funktionärin, sondern auch von vielen der Streikenden in die Diskussion getragen wird, ist sichtbar selbst schon ein Reflex auf die Wirkungslosigkeit des Streiks. Der eine kämpferische Kollege vorne neben der Funktionärin, der sich bei ihr beinah dafür entschuldigt, dass er das böse Wort von der „kapitalistischen Profitgier“ in den Mund nimmt, weist zwar unumwunden darauf hin, dass es nicht um die Umverteilung von Geld geht. Aber weil die eigentliche Frage, nämlich wie der Streik wirksam zu führen wäre, gar keinen Platz findet, setzt sich doch immer wieder diese zweite fatale Logik in der Diskussion durch.
Zu lösen wäre dieses Dilemma letztlich nur durch eine selbstständige Streikleitung und ein Ausbrechen aus dem gewerkschaftlichen Zwangsrahmen – eine Hürde, die angesichts der extrem repressiven juristischen Eindämmung des Streiks in Deutschland sehr hoch und von einer kleinen Belegschaft wie bei dieser Vivantes-Tochter alleine nicht zu überwinden ist. Ausnahmen bestätigen die Regel: Beim Botanischen Garten in Berlin ist es durch die Hartnäckigkeit der Belegschaft gelungen, die ausgelagerten Bereiche zum 1. Januar 2018 wieder in die Stammbelegschaft zurückzuholen und damit die Lohnspaltung aufzuheben.
Aber eben weil dies eine der spärlichen Ausnahmen darstellt, bedürfte es einer breiteren gesellschaftlichen Solidarität für solche Kämpfe und wirklich linker Kräfte, die unter „Klassenpolitik“ etwas anderes als das Nachtraben hinter den etablierten Gewerkschaften verstehen und wieder einen bewussten Begriff der Logik des Klassenkampfs entwickeln.